Veröffentlicht am Mai 17, 2024

Der gesetzliche Mindestlohn ist kein Sicherheitsnetz, sondern ein zentraler Bestandteil des Problems der Ausbeutung in der Modeindustrie.

  • Selbst „Made in Europe“ ist keine Garantie für Fairness, da die Lohnkosten innerhalb der EU drastisch variieren – von 18 € pro Stunde in Portugal bis über 43 € in Deutschland.
  • Die Mehrkosten für einen existenzsichernden Lohn sind minimal und betragen oft nur wenige Cent pro Kleidungsstück, was die Ausreden der großen Marken entlarvt.

Empfehlung: Hören Sie auf, nach einfachen Siegeln zu suchen, und fordern Sie stattdessen von den Marken eine lückenlose Kostentransparenz und die Übernahme systemischer Verantwortung.

Jeden Tag treffen wir Entscheidungen, die weit über unseren Kleiderschrank hinausreichen. Wenn wir ein T-Shirt kaufen, verbinden wir uns mit einer globalen Kette von Menschen – von der Person, die die Baumwolle pflückt, bis zur Näher:in, die den letzten Faden vernäht. In dem Wunsch, das Richtige zu tun, suchen wir nach Anhaltspunkten: „Made in Europe“, bekannte Markenlogos oder staatliche Siegel. Wir beruhigen unser Gewissen mit dem Gedanken, dass doch zumindest der gesetzliche Mindestlohn gezahlt wird. Doch genau hier beginnt die systemische Täuschung. Die weitverbreitete Annahme, der Mindestlohn sei eine Untergrenze für ein menschenwürdiges Leben, ist ein fataler Irrtum. Er ist oft nicht mehr als eine Lizenz zur legalisierten Armut.

Dieser Artikel bricht mit der oberflächlichen Debatte. Wir werden nicht nur den Unterschied zwischen dem gesetzlichen Mindestlohn und einem echten, existenzsichernden Lohn definieren. Wir werden aufdecken, warum der Mindestlohn eine bewusste Lohnfalle darstellt, die Arbeiter:innen in einem Kreislauf der Armut gefangen hält. Es geht um die systemische Verantwortung von Unternehmen, die sich hinter nationalen Gesetzen verstecken, obwohl sie die Macht hätten, Leben zu verändern. Wir werden die Preis-Mythen der Fast-Fashion-Industrie dekonstruieren und zeigen, dass die Zahlung fairer Löhne keine Frage der wirtschaftlichen Machbarkeit, sondern des politischen Willens ist. Machen Sie sich bereit, die Modeindustrie mit anderen Augen zu sehen – kritischer, informierter und letztlich handlungsfähiger.

Um diese komplexen Zusammenhänge zu durchdringen, werden wir die verborgenen Risiken in den Lieferketten aufdecken, die Rolle von Kontrollinstanzen hinterfragen und die wahren Kosten eines T-Shirts analysieren. Der folgende Überblick führt Sie durch die zentralen Argumente und Fakten, die Sie benötigen, um die Illusion der Fairness zu durchschauen.

Warum „Made in Europe“ nicht automatisch faire Arbeitsbedingungen garantiert?

Das Etikett „Made in Europe“ erzeugt bei vielen Verbraucher:innen ein Gefühl von Sicherheit und ethischer Überlegenheit. Es suggeriert hohe Standards, faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen. Doch diese Annahme ist trügerisch und ignoriert die tiefen wirtschaftlichen Gräben, die den Kontinent durchziehen. Europa ist kein homogener Wirtschaftsraum, und die Lohnrealitäten für Textilarbeiter:innen könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Vorstellung, dass ein in Portugal oder Rumänien gefertigtes Kleidungsstück unter denselben sozialen Standards produziert wird wie eines aus Deutschland, ist eine gefährliche Vereinfachung.

Die offiziellen Zahlen von Eurostat legen diese Diskrepanz schonungslos offen. Während laut einer Analyse von Germany Trade & Invest eine Arbeitsstunde in Deutschland 2024 inklusive Sozialabgaben 43,40 Euro kostete, waren es in Portugal nur 18,20 Euro. Diese gewaltige Differenz schafft für Unternehmen massive Anreize, die Produktion in EU-Länder mit niedrigeren Lohnniveaus zu verlagern. Sie profitieren vom guten Image des „Made in Europe“-Siegels, während sie gleichzeitig die Lohnkosten niedrig halten. Paradoxerweise haben die monatlichen Mindestlöhne in einigen osteuropäischen EU-Staaten wie Litauen (1.038 Euro) und Polen (1.100 Euro) die von südeuropäischen Ländern wie Portugal (1.015 Euro) bereits überholt, was die Komplexität der innereuropäischen Lohndynamik verdeutlicht.

Die Organisation FEMNET e.V., die sich für Frauenrechte in der Bekleidungsindustrie einsetzt, bringt es auf den Punkt: Die Forderung nach existenzsichernden Löhnen ist universell. Sie gilt für die „Bekleidungsindustrien des globalen Südens ebenso wie für Osteuropa oder die Türkei“. Das geografische Label allein sagt nichts über die tatsächliche Lebensrealität der Näher:innen aus. Es ist ein Marketinginstrument, keine Garantie für Fairness. Die Lohnfalle existiert auch innerhalb der Grenzen Europas.

Wie findet man Labels, die traditionelles Handwerk fördern statt Masse?

Wenn gängige Label wie „Made in Europe“ versagen, wie können wir als Konsument:innen dann Marken identifizieren, die wirklich einen Unterschied machen? Die Antwort liegt nicht in der Jagd nach dem nächsten Siegel, sondern in der bewussten Suche nach Unternehmen, die traditionelles Handwerk und die Menschen dahinter wertschätzen. Solche Marken setzen auf Qualität statt Quantität, auf Langlebigkeit statt auf kurzlebige Trends. Sie verstehen Kleidung nicht als Wegwerfprodukt, sondern als Kulturgut. Der Schlüssel zur Identifizierung dieser Labels ist eine investigative Herangehensweise, die über das Marketing hinausblickt.

Anstatt auf Hochglanzbilder zu vertrauen, müssen wir lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Echte Handwerksförderung zeigt sich in der Transparenz. Eine Marke, die stolz auf ihre Partner ist, wird die Werkstätten und Regionen nennen, in denen ihre Produkte gefertigt werden. Sie wird die Geschichten der Handwerker:innen erzählen, nicht weil es eine gute Marketingstory ist, sondern weil sie ein integraler Bestandteil der Markenidentität sind. Achten Sie auf Details: Wie lange arbeitet die Marke schon mit denselben Betrieben zusammen? Langjährige Partnerschaften sind oft ein Indiz für faire und respektvolle Beziehungen.

Makroaufnahme traditioneller Handarbeit in einer deutschen Textilmanufaktur

Wie diese Aufnahme zeigt, steckt in handwerklicher Fertigung eine unersetzliche menschliche Komponente. Diese Qualität hat ihren Preis, und eine Marke, die Handwerk fördert, wird dies nicht verschleiern. Sie wird eine Preisstruktur haben, die nachvollziehbar ist und die Kosten für hochwertige Materialien und faire Löhne widerspiegelt. Authentizität statt Massenproduktion zu finden, erfordert also einen Perspektivwechsel: vom passiven Konsumenten zum aktiven Rechercheur, der die wahren Werte hinter dem Produkt sucht.

Ihr Plan zur Überprüfung von Marken auf echte Handwerksförderung

  1. Transparenz prüfen: Suchen Sie nach konkreten Namen und Orten von Werkstätten in der Lieferkette. Vage Angaben wie „in kleinen Familienbetrieben gefertigt“ sind ein Warnsignal.
  2. Zertifizierungen hinterfragen: Achten Sie auf anspruchsvolle Siegel wie die Fair Wear Foundation oder GOTS, die explizit Sozialstandards und Löhne prüfen, und verlassen Sie sich nicht nur auf das Bio-Label des Materials.
  3. Preisstruktur analysieren: Ist der Preis plausibel? Ein handgestrickter Pullover kann rechnerisch nicht 29,99 € kosten. Nutzen Sie Ihr Wissen über faire Kosten als Realitätscheck.
  4. Markengeschichte recherchieren: Untersuchen Sie die „Über uns“-Seite. Wie lange bestehen die Partnerschaften mit den Handwerksbetrieben? Suchen Sie nach Beweisen für langfristige Zusammenarbeit.
  5. Lohnangaben einfordern: Suchen Sie auf der Website nach einem Transparenzbericht oder konkreten Aussagen zur Lohnpolitik. Echte Fair-Fashion-Pioniere legen ihre Kalkulationen offen.

Warum faire Mode langfristig günstiger ist als Fast Fashion Wegwerfware?

Das hartnäckigste Argument gegen fair produzierte Mode ist der Preis. Ein T-Shirt für 45 € erscheint auf den ersten Blick teuer im Vergleich zu einem für 15 €. Doch diese Betrachtung ist kurzsichtig und ignoriert die echte Kostenwahrheit. Fast Fashion ist nicht billig, es ist nur billig gemacht. Die wahren Kosten – für die Umwelt und für die Menschen in der Produktion – werden externalisiert. Langfristig ist der ständige Kauf und Ersatz von Wegwerfmode nicht nur unethisch, sondern auch teurer für den eigenen Geldbeutel. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der „Cost-per-Wear“-Analyse: die Kosten pro Tragen.

Ein minderwertiges Fast-Fashion-Shirt verliert nach wenigen Wäschen Form und Farbe. Ein hochwertiges, fair produziertes Teil ist auf Langlebigkeit ausgelegt. Es behält seine Passform, die Nähte halten und die Stoffqualität bleibt erhalten. Während das billige Shirt vielleicht 20 Mal getragen wird, bevor es im Müll landet, kann das faire Shirt über 100 Mal getragen werden. Rechnet man den Kaufpreis auf die Anzahl der Tragevorgänge um, ist das vermeintlich teure Produkt plötzlich das günstigere. Die wahre Ersparnis liegt im bewussten Konsum und der Investition in Qualität.

Diese Kalkulation wird noch deutlicher, wenn man sich den Lohnkostenanteil ansieht. Wie die Organisation INKOTA berechnet, macht der Lohnkostenanteil für die Produktion nur 1-3% des Endverkaufspreises aus. Für ein T-Shirt, das für 8 Euro im Laden liegt, erhalten die Arbeiterinnen in der Fabrik oft nur zwischen 8 und 25 Cent. Diese Zahlen beweisen, dass die Ausbeutung der Näher:innen ein zentrales Geschäftsmodell von Fast Fashion ist, nicht nur ein unglücklicher Nebeneffekt.

Cost-per-Wear-Analyse: Fast Fashion vs. Fair Fashion
Kriterium Fast Fashion T-Shirt (15€) Fair Fashion T-Shirt (45€)
Haltbarkeit ~1 Jahr (20 Waschgänge) ~5 Jahre (100+ Waschgänge)
Tragehäufigkeit 15-20 mal 80-100 mal
Cost-per-Wear 0,75-1,00€ 0,45-0,56€
Wiederverkaufswert 0-2€ 10-15€
Gesamtkosten über 5 Jahre 75€ (5 Shirts) 45€ (1 Shirt)

Baumwolle aus Indien, genäht in Portugal: Wo liegen die ethischen Risiken?

Moderne Lieferketten sind ein globales Puzzle. Ein T-Shirt kann aus Baumwolle bestehen, die in Indien angebaut, in der Türkei zu Garn gesponnen, in Portugal gefärbt und genäht und schließlich in Deutschland verkauft wird. Diese Komplexität wird von Marken oft genutzt, um Verantwortung zu zerstreuen. Zeigt man auf ein Problem in einem Land, verweisen sie auf die „guten“ Bedingungen in einem anderen Teil der Kette. Doch genau in diesen fragmentierten Prozessen liegen die größten ethischen Risiken. Die Verantwortung eines Unternehmens endet nicht an der Grenze des Landes mit den höchsten Standards.

Hier kommt das Konzept der systemischen Verantwortung ins Spiel, das rechtlich in den UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte verankert ist. Die Schweizer Organisation Public Eye fasst dieses Prinzip unmissverständlich zusammen:

Die UNO-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte legen fest, dass Unternehmen Menschenrechte respektieren müssen, selbst dann, wenn das Produktionsland diese nicht (ausreichend) schützt. Die Verpflichtung, einen Existenzlohn zu bezahlen, gilt also für jede Modefirma und in jedem Produktionsland.

– Public Eye, Mode: Fakten und Mythen

Das bedeutet: Ein Unternehmen kann sich nicht damit herausreden, dass es „nur“ den gesetzlichen Mindestlohn in einem Land wie der Türkei zahlt, wenn dieser Lohn nicht zum Leben reicht. Die Diskrepanz ist oft dramatisch. Wie die Clean Clothes Campaign berichtet, betrug der gesetzliche Mindestlohn in der Türkei im Dezember 2023 etwa 360 EUR netto, während der berechnete Existenzlohn bei 1.480 EUR lag. Eine Näher:in müsste also mehr als viermal so viel verdienen, um ihre Grundbedürfnisse und die ihrer Familie decken zu können. Dieses riesige Defizit ist die Transparenz-Lücke, die Marken durch komplexe Lieferketten zu verschleiern versuchen.

Fair Wear Foundation: Wer kontrolliert eigentlich die Fabriken?

Angesichts der Komplexität und Intransparenz der Lieferketten stellt sich eine entscheidende Frage: Wer überprüft eigentlich, was in den Fabriken passiert? Organisationen wie die Fair Wear Foundation (FWF) haben sich dieser Aufgabe verschrieben. Sie agieren als Multi-Stakeholder-Initiativen, die Marken, Fabriken, Gewerkschaften und NGOs zusammenbringen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Sie führen Audits durch, richten Beschwerdemechanismen für Arbeiter:innen ein und veröffentlichen Berichte über die Fortschritte ihrer Mitgliedsunternehmen. Ihre Existenz ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Kontrolle und Rechenschaftspflicht.

Doch selbst die besten Kontrollmechanismen stoßen an ihre Grenzen, wenn der Wille der Marken fehlt, das Kernproblem anzugehen: die Löhne. Ein Audit kann zwar Sicherheitsmängel oder überlange Arbeitszeiten aufdecken, aber die Lohnzettel lügen nicht. Eine saubere und modern aussehende Fabrik ist kein Garant für faire Bezahlung. Die wahre Kontrolle findet nicht nur bei einer Fabrikinspektion statt, sondern bei der Überprüfung der Lohnabrechnungen und dem Abgleich mit den Kosten für ein menschenwürdiges Leben vor Ort.

Weitwinkelaufnahme einer modernen Textilfabrik mit Arbeiterinnen und Qualitätskontrolle

Initiativen wie die Clean Clothes Campaign gehen daher einen Schritt weiter und schaffen Transparenz-Tools für alle. Sie ermöglichen es uns, die Behauptungen der Marken selbst zu überprüfen.

Fallbeispiel: Der Fashion Checker als Werkzeug der Wahrheit

Mit dem „Fashion Checker“ der Clean Clothes Campaign kann jede:r online nachprüfen, welche der großen Bekleidungs- und Schuhunternehmen öffentlich belegen können, dass sie ihren Arbeiter:innen einen existenzsichernden Lohn zahlen. Die Ergebnisse sind ernüchternd und entlarven das branchenweite Versagen. Bei einer umfassenden Unternehmensbefragung gaben 93 % der Marken zu, ihren Arbeiter:innen keinen Existenzlohn zu zahlen. Dieses Werkzeug zeigt, dass Kontrollen nur wirksam sind, wenn ihre Ergebnisse transparent gemacht werden und Konsequenzen haben.

Der Fehler, nur für das Logo zu zahlen statt für die Verarbeitung

Große, bekannte Marken investieren Milliarden in Marketing, um ihre Logos mit Werten wie Leistung, Stil und Qualität aufzuladen. Viele Konsument:innen glauben daher, dass ein hoher Preis und ein bekanntes Emblem automatisch mit ethischer Produktion einhergehen. Dies ist einer der größten und gefährlichsten Irrtümer im Modekonsum. In Wahrheit sind viele der größten Sport- und Modemarken Meister darin, ihre Produktionskosten zu minimieren, oft auf dem Rücken der Arbeiter:innen. Der Preis, den Sie zahlen, fließt in Sponsoringverträge und Werbekampagnen, nicht zwangsläufig in faire Löhne.

Die Organisation Fashion Changers weist darauf hin, dass globale Giganten wie Adidas und Nike keine existenzsichernden Löhne zahlen und ihre Produktion systematisch in Länder mit immer niedrigeren Lohnstandards verlagern, etwa von China nach Vietnam oder Indonesien. Dieses Verhalten zeigt, dass die Profitmaximierung über der systemischen Verantwortung für die Menschen in der Lieferkette steht. Das Logo wird zur Fassade, hinter der sich eine Realität der Ausbeutung verbirgt. Wer für das Logo zahlt, finanziert das Marketing, nicht die Fairness.

Der Ausweg aus dieser Falle besteht darin, den Fokus zu verschieben: weg vom Markennamen, hin zur tatsächlichen Qualität des Produkts. Lernen Sie, ein Kleidungsstück mit Ihren eigenen Händen und Augen zu beurteilen. Eine sorgfältige Verarbeitung ist ein viel ehrlicheres Qualitätsmerkmal als jedes Logo. Prüfen Sie die Nahtqualität: Sind die Nähte gerade und dicht, ohne lose Fäden? Fühlen Sie den Stoff: Ist er fest und substanziell? Kontrollieren Sie die Säume und die Qualität von Knöpfen und Reißverschlüssen. Ein gut gemachtes Kleidungsstück, das auf Langlebigkeit ausgelegt ist, ist eine intelligentere und ethischere Investition als ein überteuertes Trendteil mit großem Logo.

Warum ein faires T-Shirt rechnerisch nicht unter 15 € kosten kann?

Die Preisfrage ist der Elefant im Raum. Warum sollte man 45 € für ein T-Shirt ausgeben, wenn Discounter ähnliche Produkte für 3 € anbieten? Die Antwort liegt in der brutalen Realität der Kostenkalkulation. Der Preis eines Kleidungsstücks ist eine Summe aus vielen Faktoren: Material, Transport, Marketing, Händlermarge, Steuern – und eben die Lohnkosten. Bei einem ultrabilligen T-Shirt wird an allem gespart, aber am dramatischsten bei den Löhnen. Ein Preis von 3 € ist mathematisch nur durch extreme Ausbeutung von Mensch und Natur möglich.

Ein faires T-Shirt, das einen Mindeststandard an ökologischer und sozialer Verantwortung erfüllt, hat einen rechnerischen Mindestpreis. Dieser setzt sich aus reellen Kosten zusammen: Bio-Baumwolle ist teurer als konventionelle, eine umweltfreundliche Färbung kostet mehr, und vor allem: ein existenzsichernder Lohn ist ein Vielfaches des gesetzlichen Mindestlohns in vielen Produktionsländern. Addiert man all diese fairen Kostenpunkte, wird schnell klar, dass ein Verkaufspreis unter 15 € kaum realisierbar ist, wenn alle Beteiligten in der Kette fair behandelt und bezahlt werden sollen.

Das schockierendste an dieser Rechnung ist jedoch, wie gering der Aufschlag für einen fairen Lohn tatsächlich wäre. Große Marken behaupten oft, Existenzlöhne seien unbezahlbar und würden die Preise explodieren lassen. Das ist eine bewusste Falschinformation. Die Clean Clothes Campaign rechnet vor, dass Modemultis existenzsichernde Löhne zahlen könnten, ohne ihre Profitabilität signifikant zu schmälern. Ein T-Shirt müsste oft nur 10 Cent teurer werden, um den Näher:innen einen Lohn zu sichern, der zum Leben reicht. Die Weigerung der Konzerne ist also keine ökonomische Notwendigkeit, sondern eine strategische Entscheidung gegen die Menschenwürde.

Kostenaufschlüsselung: Fast Fashion vs. Faires T-Shirt (Beispielrechnung)
Kostenposition 3€ Discounter-Shirt 15€ Fair-Shirt (Minimum)
Material (Baumwolle) 0,40€ 2,50€ (Bio-Baumwolle)
Lohn Produktion 0,08€ 1,50€ (Existenzlohn)
Transport/Logistik 0,30€ 0,80€
Zertifizierung 0€ 0,50€
Händlermarge 1,00€ 4,50€
MwSt (19%) 0,48€ 2,40€
Sonstiges (Marketing etc.) 0,74€ 2,80€

Das Wichtigste in Kürze

  • Mindestlohn ist nicht Existenzlohn: Der gesetzliche Mindestlohn in vielen Produktionsländern reicht nicht zum Leben und ist oft Teil des Problems, nicht der Lösung.
  • Geografie ist keine Garantie: „Made in Europe“ schützt nicht vor Ausbeutung, da die Lohnunterschiede und Arbeitsbedingungen innerhalb der EU massiv sind.
  • Echte Kosten erkennen: Die Zahlung existenzsichernder Löhne würde ein T-Shirt oft nur wenige Cent teurer machen. Der hohe Preis fairer Mode liegt in hochwertigen Materialien und fairer Marge, nicht primär im Lohn.

Nachhaltige Mode erkennen: Was garantiert das staatliche Siegel „Grüner Knopf“ wirklich?

Auf der Suche nach Orientierung im Dschungel der Nachhaltigkeitsversprechen erscheint ein staatliches Siegel wie der deutsche „Grüne Knopf“ als verlässlicher Anker. Es wurde eingeführt, um Verbraucher:innen eine klare Kennzeichnung für sozial und ökologisch nachhaltig produzierte Textilien zu geben. Das Siegel prüft das gesamte Unternehmen auf seine menschenrechtliche und ökologische Verantwortung und stellt Anforderungen an das Produkt selbst, wie z.B. das Verbot von gefährlichen Chemikalien. Zweifellos ist der Grüne Knopf ein Schritt in die richtige Richtung und erhöht den Druck auf die Branche.

Doch bei der entscheidenden Frage der Löhne offenbart das Siegel seine größte Schwäche – eine Schwäche, die das gesamte Systemproblem widerspiegelt. Der Grüne Knopf fordert von den Unternehmen lediglich die Zahlung der gesetzlichen Mindestlöhne im Produktionsland, nicht die Zahlung von existenzsichernden Löhnen. Damit zementiert er genau die Lohnfalle, die Arbeiter:innen in der Armut hält. Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen wie INKOTA und die Kampagne für Saubere Kleidung kritisieren diesen Punkt scharf, da die Lücke zwischen Mindestlohn und Existenzlohn enorm ist.

Besonders alarmierend sind die Berechnungen der Clean Clothes Campaign, die zeigen, dass diese Lücke in den für Europa relevanten Produktionsländern noch größer sein kann als in Asien. Während in asiatischen Ländern ein Existenzlohn im Durchschnitt etwa das Dreifache des Mindestlohns beträgt, wäre in europäischen Produktionsländern ein Lohn nötig, der viermal so hoch ist wie der Mindestlohn. Wenn also selbst das ambitionierte staatliche Siegel Deutschlands an dieser fundamentalen Hürde scheitert, beweist dies, dass wir uns nicht auf einfache Lösungen verlassen können. Es bestätigt die Notwendigkeit, dass wir als Konsument:innen tiefer blicken und von Marken mehr als nur die Einhaltung unzureichender Gesetze fordern.

Die kritische Auseinandersetzung mit offiziellen Siegeln ist der letzte Schritt zur Mündigkeit. Die Grenzen von Zertifikaten wie dem Grünen Knopf zu verstehen, schärft den Blick für das, was wirklich zählt: echte, systemische Veränderung.

Um diese Veränderung voranzutreiben, müssen wir unser Wissen nutzen, um gezielt Druck auszuüben. Der nächste logische Schritt ist, dieses Wissen in konkrete Forderungen an Unternehmen und Politik umzuwandeln und bei jeder Kaufentscheidung die richtigen Fragen zu stellen.

Häufige Fragen zu fairer Mode und Löhnen

Was ist der Unterschied zwischen Mindestlohn und Existenzlohn?

Der Mindestlohn ist ein gesetzlich festgelegter Betrag, den ein Arbeitgeber mindestens zahlen muss. Er liegt jedoch in vielen Produktionsländern weit unter dem, was eine Person zum Leben benötigt. Ein Existenzlohn ist kein gesetzlicher, sondern ein menschenrechtlicher Standard. Er wird so berechnet, dass er die Grundbedürfnisse einer Arbeiter:in und ihrer Familie (Ernährung, Miete, Gesundheitsversorgung, Bildung, Kleidung, Transport) nach einer normalen Arbeitswoche ohne Überstunden deckt und zusätzlich ein kleines Sparen ermöglicht.

Garantiert der Grüne Knopf existenzsichernde Löhne?

Nein. Dies ist der größte Kritikpunkt von NGOs. Der Grüne Knopf fordert aktuell nur die nachweisliche Zahlung der national geltenden gesetzlichen Mindestlöhne. Er erkennt zwar die Notwendigkeit von Existenzlöhnen an und verlangt von Unternehmen, eine Strategie zur schrittweisen Erhöhung der Löhne zu entwickeln, aber er garantiert sie nicht als verbindlichen Standard für die Siegelvergabe.

Wie kann ich als Verbraucher:in sicherstellen, dass fair produziert wurde?

Absolute Sicherheit gibt es kaum, aber Sie können die Wahrscheinlichkeit stark erhöhen. Suchen Sie nach Marken, die eine radikale Transparenz leben: Sie legen ihre gesamte Lieferkette offen, nennen die Fabriken und veröffentlichen sogar Lohn- und Preiskalkulationen. Achten Sie auf Zertifizierungen, die über den Grünen Knopf hinausgehen, insbesondere die Fair Wear Foundation, die einen starken Fokus auf Arbeiterrechte und Löhne legt. Und vor allem: Fragen Sie nach. Schreiben Sie Marken an und fordern Sie konkrete Informationen zur Lohnpolitik.

Geschrieben von Miriam Kaul, Ehemalige Einkäuferin für große deutsche Warenhäuser und Expertin für Retail-Psychologie. Spezialisiert auf Budget-Management, Kapselgarderobe und das Durchschauen von Verkaufsstrategien.